Wenn die Musik ins Stocken gerät, ist es das Ende der Welt


Über aggressive Intervalle, flauschige Hexen und Musik als Nahrung: Alevtina Ioffe, die an der Staatsoper Stuttgart die Neuproduktion von „Hänsel und Gretel“ dirigiert, im Interview.
Frau Ioffe, Sie sind in Russland aufgewachsen, wo Märchen erzählt werden, die uns hier in Deutschland nicht unbedingt geläufig sind. Kannten Sie Hänsel und Gretel als Kind?
Die Märchen der Brüder Grimm sind in Russland sehr bekannt. Als Kind waren die Bremer Stadtmusikanten und Aschenputtel meine Lieblinge. Ich wollte immer sein wie Aschenputtel, um meinen Prinzen zu treffen. Aber Hänsel und Gretel haben mir meine Eltern nicht vorgelesen. Wahrscheinlich wollten sie mich schützen.
Die Geschichte, in der die Eltern ihre beiden Kinder in den Wald führen und dort zurücklassen, wirkt beunruhigend.
Ja, das ist ein grausames Märchen. Als Eltern liebt man seine Kinder in jedem Fall, ob man hungern muss oder alles hat. Aber man gibt sie doch nicht freiwillig weg!
Wo erkennen Sie etwas von diesem Grauen in der Musik von Engelbert Humperdinck?
Humperdinck hat das Märchen eleganter, weicher, für Kinder geeigneter geschaffen. Allerdings klingt die Mutter in meinen Ohren wie eine Hexe. Bei ihr springt die Musik in aggressiven Intervallen unruhig auf und ab. Jedoch erkennt man im Text der Arie ihren Schmerz. Sie hat alles verloren, sie hat nichts, kein Geld, nichts zu essen, sie ist
„müde zum Sterben“.
Und was macht Humperdinck mit der Musik für die Hexe?
Eigenartigerweise ist die viel entspannter. Für mich klingt die Hexe wie eine Katze, die mit einer Maus spielt, verführerisch, flauschig, in gewisser Weise schön. Aber die Wörter, die sie singt, sind grausam und doppeldeutig. In der Rolle ist sie die „garstige Frau“, da fallen Text und Musik auseinander.
Humperdinck hat das Stück durchkomponiert, nach dem Vorbild von Richard Wagners Musikdrama, aber es sind auch viele Lieder darin verarbeitet, die die meisten Kinder kennen, Ein Männlein steht im Walde oder Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh zum Beispiel. Hören Sie diese Lieder hin und wieder irgendwo?
Ich kenne sie aus Russland. Natürlich sind im Russischen die Worte verändert, sodass sie zur Melodie passen. In Sankt Petersburg, wo ich seit vergangenem Februar am Michailowski-Theater Generalmusikdirektorin bin, wurde Hänsel und Gretel 1895 zum ersten Mal aufgeführt. Es war ein riesiger Erfolg. Die Melodien haben sich aus der Oper herausgelöst, wie in Deutschland auch.
Axel Ranisch wird die Oper in Stuttgart inszenieren. Er ist bekannt für seine unbändige Erzähllust und seinen kruden Humor. Wie wird er Hänsel und Gretel anlegen, wissen Sie das?
Was genau auf der Bühne passieren wird, weiß ich vor dem Probenstart noch nicht, aber wir haben darüber gesprochen, wie er die Figuren sieht, welche Entwicklung sie bei ihm nehmen und wie sie sich in bestimmten Momenten verhalten. So kann ich die Musik daran anpassen, danach richte ich zum Beispiel die Tempi aus, die Schnitte. Wir tauschen uns aus, stecken gemeinsam die Richtung ab. Es ist ein Dialog.
Sie kennen Axel Ranisch schon von Ihrer Zusammenarbeit an der Bayerischen Staatsoper …
… und wir haben uns auch dort die Bälle zugespielt. Das ist mir in jeder Kooperation wichtig. Axel hat unheimlich viele Ideen, er ist sehr positiv. Nach der Erfahrung in München wollte ich gleich wieder mit ihm zusammenarbeiten, aber dann kam die Pandemie dazwischen. In Stuttgart haben wir Glück mit den Sängerinnen und Sängern. Sie haben viel Energie, sie haben Lust auf diese Oper, sie haben Lust zu arbeiten. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich.
Man hört immer wieder davon, dass Musikerinnen und Musiker, die in Russland ausgebildet werden, besonders seelenvoll spielen würden. Können Sie damit etwas anfangen?
Seelenvoll? Ich kann mich erinnern, dass mir als Kind meine Klavierlehrerin die Musikalität buchstäblich eingehämmert hat. In der russischen Methodik rütteln die Lehrerinnen ihre Schülerinnen andauernd auf. Dadurch vermittelt sich das, was sie lehren wollen, direkter, als wenn sie nur sprechen würden. Sie sang auch viel mit mir. Das ist das Wesentliche, wenn Sie Klavier spielen oder dirigieren: Singen Sie das, was Sie spielen, dann geht es in Ihren Körper über. Nur gelobt hat sie mich nie. Acht bis zwölf Stunden am Tag habe ich Klavier geübt, aber es hat ihr nicht gereicht. Sie hat höchstens gesagt, ja, das ist besser geworden. Ich hatte so viele Emotionen in mir, die wollten raus, und sie sagte, halte dich ans Tempo, spiele mit Metronom. Ich bin eine sehr gute Pianistin geworden, aber eine Pianistin voller Komplexe. Vielleicht habe ich deshalb aufgehört, Klavier zu spielen.

Dafür sind Sie jetzt Dirigentin.
Ja. Ein Orchester hat viel mehr Klangfarben als ein einzelnes Instrument. Und ich kann den Musiker*innen viel von meiner Energie und Seele abgeben. Natürlich erwarte ich die gleiche Unterstützung. Ich spüre sofort, wenn die Stimmung des Orchesters sinkt. Und meine Klavierlehrerin hatte schon recht: Die Musik ist wie ein Fluss, sie geht durch Zeit und Raum, wenn sie an Energie verliert, stirbt sie. Man muss das fühlen und beim Dirigieren auffangen, denn wenn die Musik ins Stocken gerät, ist es das Ende der Welt. Allerdings habe ich während des Lockdowns auch wieder viel Klavier gespielt.
Wie haben Sie diese Zeit der Pandemie bislang erlebt?
Als uns alles abgesagt wurde, saß ich in Moskau, und ich hatte acht, neun Monate lang keine Arbeit. Anfangs fand ich das ganz gut so. Ich konnte Zeit mit meinen Eltern verbringen, die ich über viele Jahre wenig gesehen hatte. Ich habe die großen russischen Klassiker wie Tolstoi und Dostojewski gelesen, viel Deutsch sowie neue Musikstücke gelernt. Und ich habe die Wohnung meiner Großmutter renoviert. Mein Sohn allerdings, er ist 21 Jahre alt, saß in Berlin. Er konnte nicht nach Russland reisen. Ich konnte nicht nach Berlin. Er ist Student im dritten Semester, man kann an den Fingern abzählen, wie oft er Präsenzunterricht hatte. Er verfolgt seine Vorlesungen vom Computerbildschirm aus, sieht niemanden. Seine Generation verlernt zu kommunizieren, miteinander umzugehen. Sie wissen nicht, was es bedeutet zu flirten und Beziehungen außerhalb des Netzes zu gestalten. Sie verpassen ihr echtes Leben.
Sie machen sich Sorgen?
Ja, aber nicht nur um ihn. Ich mache mir Sorgen um uns alle. Diese Situation hält nun schon so lange an. Ich befürchte, die Menschen verlernen, dass sie Kultur und Musik brauchen. Es ist ja so: Wenn Sie allein ans Überleben denken, wo Sie arbeiten können, wo Sie etwas zu essen für ihre Kinder bekommen, dann brauchen Sie keine intellektuelle Nahrung. Das ist wie im Krieg. Da haben die Menschen keinen Sinn für Kunst. Wenn ich jetzt an die Zeit vor der Pandemie denke, kommt mir die Freiheit, die wir hatten, unwirklich vor. Wir waren voller Liebe, voller Energie. Wir konnten tun, was wir wollten. Wir hatten die Freiheit, Musik zu machen.
Galt das nicht nur ohnehin für einen eher kleinen Teil der Menschen?
Doch, schon, aber der Anteil derer, für die Musik oder die kulturelle Bildung ihrer Kinder wichtig ist, schwindet.
Was befürchten Sie?
Ich befürchte, dass wir unsere Kultur verlieren, wie wir miteinander reden, wie wir miteinander fühlen, wie wir zusammenleben, wie wir Musik teilen. Wenn man Musik nicht teilt, verschwindet sie. Weltweit. Schauen Sie nach Syrien: eine jahrtausendealte, wunderschöne Kultur. Und was ist davon übrig geblieben? Steinhaufen! Mir gefriert das Blut.
Natürlich ist die Kriegssituation in Syrien nicht ganz mit der Pandemie vergleichbar.
Das stimmt, aber wir müssen wachsam sein, damit unsere Kultur durch die Pandemie nicht irgendwann verloren geht. Die Welt muss darüber nachdenken, wie man das kulturelle Erbe bewahren kann, um es unseren Nachfolgern zu übergeben. Damit wir unsere Ideale am Leben erhalten. Anders kann ich es nicht sagen.

Das Gespärch führte Carolin Pirich

Foto: Max Zimmermann