„Cio-Cio San ist die tragischste Heldin“

Die Dirigentin Eun Sun Kim über ihre Sicht auf Puccinis „Madama Butterfly“
Madama Butterfly erzählt von einem tödlichen Missverständnis, von kulturellen Erwartungen und den Fehldeutungen fremder Codes und Konventionen. Sie zeigt, wie koloniale Machtverhältnisse bis in die  intimsten Beziehungen wirken: als trügerische Romantik. Die japanische Geisha Cio-Cio San, genannt Butterfly, heiratet den amerikanischen Marineleutnant Pinkerton. Während er sein Vergnügen sucht, nimmt Butterfly den Bruch mit ihrer Vergangenheit in Kauf. Pinkerton lässt sie schwanger und im Glauben an eine gemeinsame Zukunft in Japan zurück.

Frau Kim, was an dieser Oper ist für unsere Gesellschaft heute relevant?
Mit Madama Butterfly gelang Giacomo Puccini einer der Archetypen der Oper überhaupt, womit sich die Frage nach der heutigen Relevanz von selbst beantwortet, denn die Gültigkeit dieser Tragödie erklärt sich in jedem Moment aus sich heraus. Ohnehin sind Verrat und Betrug Triebfedern der Gattung Oper, wie überhaupt der dramatischen Kunst und des menschlichen Dramas, seit es dieses gibt.

Was finden Sie an dieser Oper spannend?
In der Tonsprache verwendet Puccini zwar östliches Kolorit in der Musik, aber vom Kern her entwickelt er musikalisch die italienische, dramatische Oper zu einem neuen Höhepunkt und schafft mit der Hauptfigur die wahrscheinlich stimmlich anspruchsvollste Rolle des italienischen Repertoires.

Was, meinen Sie, hat den Komponisten Puccini an Cio-Cio San interessiert?
Puccinis  Fantasie entzündete sich praktisch in seinem gesamten Schaffensprozess ausschließlich an Frauenfiguren. Die meisten von ihnen waren Opfer, sowohl der sozialen Umstände als auch daraus resultierend einer damals ausschließlich von Männern geprägten Welt. Cio-Cio San ist vielleicht von allen tragischen Heldinnen Puccinis die Quintessenz seines Denkens und sowohl in der dramatischen als auch musikalischen Verarbeitung die »tragischste« Heldin. Vom ersten Auftritt an hat Cio-Cio San keine Chance. Der Betrug ist so gnadenlos vorbereitet, wie das tragische Ende unausweichlich bleibt.

Eun Sun Kim stammt aus Südkorea.
An der Staatsoper Stuttgart dirigiert sie
Madama Butterly
von Giacomo Puccini.
Bis 5. April im Opernhaus.
Dieses Interview erschien zunächst
im Magazin Reihe 5 der Staatstheater Stuttgart.