Gehalten am 22. Juni 2020 vor dem Meschtschanskij-Gericht

Plädoyer von Kirill S. Serebrennikov

Der Regisseur Kirill Serebrennikov steht erneut vor Gericht. Ihm drohen sechs Jahre Haft, heute wird sein Urteil gesprochen. Wir dokumentieren hier erstmals in deutscher Sprache sein Schlussplädoyer vor Gericht, übersetzt von Sergio Morabito.
Man sollte vielleicht sagen, warum PLATFORMA zu einem wichtigen und bedeutenden Projekt nicht nur der zeitgenössischen russischen Kunst, sondern auch im Leben derer wurde, die es konzipierten, durchführten und besuchten.

Die Idee von PLATFORMA ist, vor allem andern, die Freiheit der künstlerischen Äußerung, die Vielgestaltigkeit der Lebensstile, die Bestätigung der Kompliziertheit der Welt, ihrer Vielfalt, ihrer Jugend und der Faszination durch diese Vielfalt. Es geht um die Hoffnung auf Veränderung.

Woran dachte ich, als ich dem neuen Präsidenten Russlands, der „Modernisierung“ und „Innovation“ proklamierte, die Idee eines komplexen spartenübergreifenden Projekts vorschlug?

Hol’s der Teufel, dachte ich, vielleicht erhalten die vielen talentierten, wachen und rebellischen jungen Leute, die ich persönlich kenne, und die in den Grenzen der traditionellen, immer noch sowjetischen Institutionen keinen Platz finden, diese jungen Leute, die immer häufiger in Europa arbeiten und denen dort Stipendien, Erfolge und Anerkennung zu Teil werden, vielleicht erhalten sie dank einer staatlichen Finanzierung endlich die Chance, sich auch in ihrer Heimat zu verwirklichen und werden nicht länger ins herabwürdigende Ghetto des eigentlich entbehrlichen „Experiments“ gesperrt. So dachte ich!

Haben die drei Jahre des Platforma-Projekts, denen drei Jahre Arrest, erlogener Anschuldigungen, richterlicher Untersuchungen folgten, einen Sinn gehabt? Diese Frage stelle ich mir immer häufiger selbst.

Waren jene 340 Veranstaltungen viel, die von uns in den drei Jahren des PLATFORMA-Projektes herausgebracht wurden, die Mehrzahl unter ihnen originäre, unwiederholbare und komplexe Darbietungen, an denen zahlreiche Schauspieler, Musiker, Regisseure, Ausstatter, Tänzer und Komponisten mitwirkten? Sie waren viel. Sehr viel. Das bestätigt Ihnen jeder, der im Theater, in der Musik, in der zeitgenössischen Technologie, im zeitgenössischen Tanz zu Hause ist. Und sie, diese Experten und Spezialisten, kamen ins Gericht und legten Zeugnis ab über sich, über ihre Arbeit, über das, was sie in der Weißen Zeche auf Winsawod von 2011 bis 2014 erlebt haben. Die Behauptung des Kultusministeriums und der Staatsanwaltschaft, dass wir uns im Umgang mit den Subventionsgeldern etwas hätten zuschulden kommen lassen, ist lachhaft. Denken sie vielleicht, wir hätten 800 Projekte anstelle von 340 realisieren sollen? Da wir doch von den Subventionen in Höhe von 216 Millionen 128 Millionen „geklaut“ haben sollen! Dann hätten sie uns das sagen müssen!!! Wir haben immer wieder das angeblich geschädigte Kultusministerium befragt, welche Versäumnisse man uns vorwirft, und haben nie eine Antwort erhalten, weder was das Projekt als Ganzes noch was einzelne Veranstaltungen betraf. Diese lächerliche Beschuldigung weise ich in allen Punkten zurück.

Zweifelsohne ist nun das Prinzip verständlich geworden, welches jener Kultusminister formulierte, nachdem er den Platz seines Vorgängers Alexander Abdeev, des Initiators von „Platforma“, eingenommen hatte, das Prinzip, welches jener (der heute das Amt bereits wieder abgegeben hat (= Wladimir Medinski, A.d.Ü.)) zur Grundlage seines Zusammenwirkens mit der zeitgenössischen Kunst machte: „Experimente – nur auf eigene Rechnung“. Das wiederholte er bei zahlreichen seiner Auftritte. Und jetzt wird klar, dass damit genau PLATFORMA gemeint war. Und dass dieses „auf eigene Rechnung“ drei Jahre Haft, Verfolgung, drei Jahre verleumderischer und absurder Beschuldigungen und Gerichtsverfahren bedeutet.

Es gibt unterschiedliche Versionen darüber, warum der „Theater-Prozess“ überhaupt angestrengt wurde – von den allerlächerlichsten bis zu komplizierten und verschwörungstheoretischen. Eines Tages wird alles offenbar werden, irgendwann werden die Archive der Geheimdienste veröffentlicht, und wir werden wissen, wer die Anordnungen gab, wer sich diesen Prozess ausgedacht hat, wer ihn fabrizierte, wer die Denunziationen schrieb. Im Moment ist das nicht wichtig – wichtig ist, dass wir PLATFORMA gemacht haben, in seiner ganzen Vielschichtigkeit, seiner freien Sparten-Verwebung, seiner Außergewöhnlichkeit, seiner Strahlkraft und Ungewohntheit. PLATFORMA erwies sich dadurch als ontologisch fremd allen Systemen der Kulturbürokratie und der Seilschafts-Kultur. Und es ist deutlich geworden, was dieses „geschädigte“ Kultusministerium ist: eine völlig toxische Behörde, die dich in allen denkbaren Situationen hintergeht und austrickst.

Ob ich bedaure, dass ich PLATFORMA genau so gestaltet habe – als einen Ort der vollen künstlerischen Freiheit, an dem viele kreative Menschen sich realisieren konnten? Nein. Bedaure ich, dass die Buchhaltung, die zum Gegenstand all dieser gerichtlichen Sitzungen und Untersuchungen wurde, so erbärmlich organisiert war? Natürlich bedaure ich das. Aber darauf hatte ich leider keinen Einfluss und konnte es nicht ändern, von Buchhaltung verstehe ich nichts. Ich war rund um die Uhr mit der Produktion und Organisation der Veranstaltungen befasst. Mit den Finanzen habe ich mich nicht beschäftigt.

Es ist völlig klar, dass PLATFORMA nicht nur aus Buchhaltung bestand, sondern vor allem aus dem, was sich in den Räumen von Winsawod ereignete: 340 Veranstaltungen, tausende Zuschauer, die sich bei uns fortbildeten, und mehrere Dutzende junger Profis, die ihre Qualifikation im Rahmen unseres Projektes unter Beweis stellten und steigerten. Und mich empören die Versuche, die Bedeutung von PLATFORMA zu leugnen, mich empören die erlogenen Behauptungen, dass wir irgendetwas unterlassen hätten, für dieses Geld zu tun. Die Anklage lügt, sie schützt ihre Uniformen und diejenigen, die diesen Prozess angezettelt haben.

Die Menschen, die mit uns gemeinsam an PLATFORMA gearbeitet haben, sind vors Gericht getreten und haben zu unseren Gunsten ausgesagt, sogar die Zeugen der Anklage haben dies getan. Im „Theater-Prozess“ gibt es kein einziges Zeugnis, keinen einzigen Beweis eines unehrenhaften Verhaltens meinerseits, eines ungesetzlichen Vorgehens, einer Absicht, sich an den zur Verfügung gestellten Geldern zu bereichern.

Es besteht Gewissheit, dass das künstlerische Leben von PLATFORMA, für das ich verantwortlich war, ein Akt der gemeinsamen Anstrengung ehrlicher, talentierter, außergewöhnlicher Menschen ihrer Generation war, jener fabelhaften jungen Leute, zu deren Gunsten ich das Ganze konzipiert hatte. Und auch sie sind auf die 340 PLATFORMA-Veranstaltungen stolz, davon bin überzeugt.

Die reichlich bittere Ironie unserer Situation besteht darin, dass unsere Anklage sich auf Aussagen der Bauchhalter und ihrer Bekannten stützt, die das PLATFORMA-Geld in Bargeld tauschten. Auf sie übten die Staatsanwälte Druck aus und sie, die um sich selbst fürchteten, haben uns bezichtigt. Sie haben gelogen. Auf Grundlage ihrer Lügen konstruierten Staatsanwalt Lawrow und sein Team den „Theater-Prozess“. Die besten Freunde des Staatsanwalts sind die „Bargeldeinlöser“. Traurig, aber wahr!

Es steht außer Zweifel, dass die Buchhaltung des Projektes fehlerhaft war, dem widerspricht auch keiner. Das wurde auch durch die Wirtschaftsprüfung deutlich, die ich 2014 initiierte. Und niemand hätte sich darüber gewundert, wenn die gerichtliche Klärung diese Ebene untersucht hätte; wenn man untersucht hätte, wie die Buchhalter unser Geld zu Bargeld über eigene Firmen umwandelten. Aber im „Theater-Prozesses“ wird nicht über die Buchhaltung verhandelt. Sondern darüber wie Menschen, die ein Theaterprojekt zum Erfolg geführt haben, aufgrund des gewandelten gesellschaftlichen Klimas ohne jeden Beweis zu einer „kriminellen Vereinigung“ erklärt werden. Und darüber, wie der Staat (denn das Kultusministeriums ist der Staat) sich weigert, zu dem zu stehen, was mit dem Geld der Steuerzahler von ihm selbst ermöglicht und geschaffen wurde, einer aktuellen Stimmungslage zuliebe.

Der Unterschied zwischen „zeitgenössischer Kunst“ und einem propagandistischen Staatsauftrag liegt darin, dass sie äußerst scharfsichtig, kritisch und auf paradoxe Weise auf die Gegenwart und das gelebte Leben reagiert. Sie reagiert durch zeitgenössische Medien, durch ehrliche Grundsatzgespräche, durch freie Reflektion, durch Kunst. Auf unsere Arbeit wird mit Verfolgung, Gerichtsprozessen und Festnahmen reagiert. In diesem Sinne setzt das Projekt auch durch seine anschließende dreijährige Strafverfolgung natürlich seine Arbeit fort und dokumentiert sehr präzise unsere Zeit und ihren wahren Zustand.

Immer wenn ich an den „Theater-Prozess“ denke überfällt mich ein Gefühl der Ungerechtigkeit. Ich glaubte, dass wir alle zusammen und ich im Besonderen etwas Gültiges und Wichtiges für unser Land geschaffen haben: PLATFORMA wurde zu einer Brücke zwischen Russland und der Welt, zu einem Instrument der Involvierung der russischen Kunst in die aktuellen Prozesse in der Welt der Kunst. Das war die Absicht seiner Gründung und nicht die Umwandlung von Subventionen in Bargeld. Und jene, die den Prozess angezettelt haben und uns irgendwelcher Gemeinheiten beschuldigen, haben es zu verantworten, dass Russland heute zu einem Ort geworden ist, an dem es möglich ist, Menschen drei Jahre lang zu schikanieren, ohne irgendeinen Beweis für Dinge vorzulegen, die sie niemals begangen haben.

Ich bin überzeugt, dass PLATFORMA das Theater beeinflusst hat, die Bildende und Medien-Kunst, den Tanz und die zeitgenössische klassische Musik. Diese Gewissheit beruht darauf, dass sich die PLATFORMA-Erfahrungen sich bis heute, fast zehn Jahre danach, sowohl praktisch als auch theoretisch fortsetzen, auf anderen Bühnen, in anderen Projekten, in den Arbeiten zahlreicher zeitgenössischer Künstler.

Die Zeit wird alles zurechtrücken. Das PLATFORMA-Projekt und seine Dokumentation vor dem Gericht der Russischen Föderation ist heute bereits Teil der jüngeren Geschichte der russischen Kunst. Es scheint, der böse Vorsatz jener, die dies alles ausgeheckt haben, war, uns zu diskreditieren, indem sie uns dessen beschuldigten, was natürlich keiner von denen, die PLATFORMA schufen, je getan hat, und die Erinnerung an das Projekt durch den Versuch zu vernichten, es auf seine indiskutable Buchführung zu reduzieren. Eure Ambition entbehrt jeden Beweises und ist lachhaft, egal was für horrende Summen ihr auch immer in eure Anklageschriften eingetragen habt.
Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit, professionelle und menschliche Integrität, schöpferische Unerschrockenheit und Freiheit wurden in der Arbeit von PLATFORMA als wichtigste Werte bewährt, in dem Bereich, für den ich verantwortlich war. Natürlich spreche ich nicht über die gottverdammte Buchhaltung. Sondern darüber, worüber Teilnehmer und Zuschauer hier vor Gericht ausgesagt haben.

Kreative Menschen sind sehr feinfühlig gegen Ungerechtigkeit, sie spüren, wer ehrlich ist und wer lügt, wer der Dieb und der Betrüger ist und wer nicht. Und ich bin der Gemeinschaft der Künstler dankbar, die uns diese ganzen Jahre hindurch unterstützt haben, indem sie in die Gerichtssäle kamen, Briefe schrieben und Materialien zu unserer Unterstützung erarbeiteten. Und wenn sich diese Lüge, diese Verleumdung und Willkür auch nicht mit offenen Briefen und Unterschriftenlisten besiegen lässt, sind wir euch dankbar, dass ihr das trotzdem gemacht habt.
Die PLATFORMA-Zeit war eine wundervoll kreative und glückliche Zeit, weil eine junge Künstlergeneration arbeiten konnte, dafür die verdiente Anerkennung fand und die Befriedigung, dass noch ihre verrücktesten Ideen realisiert werden konnten.

Schwache Menschen verfügen über ausgezeichnete, auswendig gelernte Rechtfertigungen ihrer Hilflosigkeit: „So wurde uns befohlen.“, „So hat man uns angewiesen.“, „Das alles wurde nicht von uns entschieden.“, „Na, ihr versteht schon!“ Die russische „Banalität des Bösen“! PLATFORMA hat alle gelehrt, Zuschauer wie Mitwirkende, sich aufzulehnen gegen die gelernte Hilflosigkeit, für das eigene Handeln verantwortlich zu sein, zu handeln, zu schöpfen. In diesem Sinne übernehme ich für das künstlerische PLATFORMA-Programm die volle Verantwortung, für alle „Experimente“, für die mir und meinen Weggefährten nun dieser Prozess angehängt wurde.

Die Jugend wählt immer die Freiheit, nicht den „Stall“ und nicht die „Herde“. In diesem Sinne gab PLATFORMA den Künstlern die Hoffnung, und dem Publikum auch, dass die Ideen der Freiheit früher oder später Grundlage unseres Lebens werden. Ich bin überzeugt, dass dies eine der PLATFORMA-Lektionen ist, die wertvoll für jene ist, die einen Wandel wollen, und Grund für die wütenden und aggressiven Attacken jener, die mit der gegenwärtigen Ordnung der Dinge zufrieden sind.

„Sag immer die Wahrheit“, das haben mich meine Eltern gelehrt! Durch PLATFORMA konnten wir dem Land und der Welt von einem jungen, ehrlichen Land berichten, in dem ehrliche Menschen leben, die bereit sind, zu Autoren ihres eigenen Lebens zu werden! Zu freien Autoren!

Es ist offensichtlich, dass alle Ziele, die der Staat für PLATFORMA gesetzt hatte – die Entwicklung und Popularisierung der zeitgenössischen Kunst – von mir, von uns, von all denen, die PLATFORMA realisierten, mit maximalem, durchschlagendem Erfolg erreicht wurden.

Ich bedaure es sehr, dass PLATFORMA zu einem fatalen Moment im Schicksal meiner Leidensgenossen wurde. Keinesfalls bedaure ich, Jahre meines Lebens der Entwicklung der Kunst in Russland gewidmet zu haben, mag dies auch mit Schwierigkeiten, Verfolgung und Verleumdung verbunden sein. Ich habe niemals irgendeinem lebenden Wesen Schaden zugefügt, ich habe mich niemals unehrlich vergangen. Ich habe in Moskau, in Russland viele Jahre gearbeitet, habe viele Inszenierungen geschaffen, eine ganze Reihe Filme gedreht, im Bestreben meinem Land nützlich zu sein. Ich bin stolz auf jeden Tag, den ich meiner Arbeit für Russland gewidmet habe. Einschließlich jener Tage, an denen ich PLATFORMA verwirklicht habe.
Die Initialen der Absätze der Rede von Serebrennikov bilden im russischen Original ein Akrostichon:
ICH BEDAURE NICHTS
IHR TUT MIR LEID